Papa sein dagegen sehr.
Rikki Tim-Tom
oder
587 Möglichkeiten, ein Baby falsch zu halten

Ein Fortsetzungstagebuch

Kapitel 1/2, Tag 0

Die Geburt

 

Natürlich sollen wir gleich losfahren, sagt der Pförtner.

Und ich denke mir, die nächste Wehe wird wohl im Auto kommen. So ist es auch, ich fühle mich recht hilflos, eine Hand am Lenkrad, eine bei meiner Frau. Da müssen wir durch. Ich denke nicht einmal daran, dass Radarkontrollen manchmal auch mitten in der Nacht stattfinden.

Die nächste Wehe packt Irena 20 Meter vor der Eingangstür. Sie geht in die Knie, ich beuge mich über sie und versuche, ihr Mut zu machen. Da öffnet sich ein Fenster, eine Schwester beugt sich heraus und ruft zu uns herunter:

„Brauchen Sie Hilfe?“, und ich antworte:

„Nein, nein, meine Frau bekommt ihr Baby, die Abteilung weiss schon Bescheid…“, und mit einem Auge sehe ich, wie sich das Fenster wieder schliesst. Aber wir müssen immer noch die 20 Meter zum Eingang schaffen.

Ich denke an das gemütliche Entbindungszimmer, an den kleinen Swimmingpool da oben, die heimelige Atmosphäre und natürlich an die professionelle Hilfe, die wir da bekommen werden.

Endlich haben wir es geschafft.

„Mein Name ist Riegel, wir haben angerufen“, sage ich, und der Pförtner fragt uns, ob Irena selber laufen kann oder ob ich einen Rollstuhl haben möchte.

Komisch, ich kann mich nicht mehr erinnern, ob uns die Hebamme unten abholt oder wie wir sonst auf die Entbindungsstation gekommen sind.

Ich erinnere mich noch an das schlechte Gewissen, dass wir sie um ihren Schlaf bringen.

Jeden falls, kaum angekommen ist nichts mehr mit kuscheligem Doppelbett, sofort kommt meine Frau auf das Klinikbett, und sie wird es nicht mehr verlassen, bis sie auf ihre Station geschoben wird.

Meine wichtigste Arbeit für die nächsten Stunden wird sein, einen Waschlappen nebenan immer wieder mit kaltem, frischen Wasser zu tränken und meiner Frau damit über die Stirn zu streichen.

Eine Geburt ist schon ein rechtes Ding. Es zu erzählen oder zu beschreiben, dazu müsste man ein größerer Schriftsteller sein als ich es bin. Manche Dinge graben sich in die Erinnerung ein, über viele legt der Mantel der Zeit ein gnädiges Vergessen.

Ein Detail war zum Beispiel die Fruchtblase, die nicht platzen wollte. Bevor die Hebamme sie aufgestochen hat, sagt sie zu mir:

„Geh´ lieber etwas auf die Seite, das kann ganz schön spritzen!“

Ich dachte, sie würde vielleicht einen Spaß machen, denn ich stand ein gutes Stück auf der Seite. Aber der Strahl, der mich gleich danach nur knapp verfehlte, erinnerte mich daran, dass es keinen Spaß gibt, wenn ein Kind geboren wird.

Und das ewige Formulare ausfüllen will meiner Erinnerung nicht weichen. Da liegt deine Frau und quält sich, und du musst ewig irgendwelche Angaben machen. Wozu die das bloß alles brauchen?

Auf der anderen Seite trägt das aber auch dazu bei, Ruhe auszustrahlen, so, als würde man sagen:

„Siehst Du, ist doch alles ganz normal…“

Die Tage danach werde ich oft gefragt werden:

„Und, warst Du auch dabei?“, und ich werde sagen:

„Na klar, da wollte ich schon dabei sein“.

Aber, wie soll ich es sagen, so richtig interessieren tut das keinen. Wenn es jemand wirklich wissen wollte, wahrscheinlich könnte man gar nicht viel darüber erzählen. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Rolle des daneben sitzenden Mannes nicht richtig gewürdigt wird.

Die Frau muss die Schmerzen aushalten, und der Mann sitzt daneben. Aber was der an psychischen Belastungen aushalten muss, das ist eine Sache, die steht auf einem ganz anderen Blatt.

Wieder gehe ich nach nebenan, um den Waschlappen neu mit kaltem Wasser zu tränken. Seit einer Stunde habe ich schon das Gefühl, jetzt wird es doch langsam so weit sein. Der Rhythmus Wehe- Entspannung, Wehe- Entspannung hat sich kaum verändert, langsam denke ich mir kleine Hilfen aus. Ich frage mich, was passieren muss, damit die Hebamme den Arzt ruft. Die Hebamme frage ich nicht.

Ich denke mir aus, dass ich fünf Wehen verstreichen lasse, ohne nachzudenken und ohne mich zu fragen, wann und wie es denn weitergehen werde.

Und jedes mal, wenn ich am Wasserhahn stehe, lasse ich das Wasser ein bisschen länger laufen, um mir vielleicht 20 Sekunden mehr Ruhe zu verschaffen, und gleichzeitig plagt mich mein Gewissen und sagt mir, ich muss zurück, wenn ich jetzt nicht für meine Frau da bin, wann denn dann überhaupt?

Die fünf Wehen gehen vorüber, und ich ertappe mich dabei, wie ich mit mir selber handele. Warte ich das nächste mal wieder fünf Wehen ab? Oder nur drei? Nein, denke ich mir, ich muss stark bleiben, ich bin stark, ich werde wieder fünf lange Wehen abwarten, ohne nach dem weiter zu fragen.

„Also“, denke ich mir, „fünf Wehen tu ich gar nicht nachdenken, und dann werde ich die Hebamme fragen.“

Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich sie fragen will, aber es hilft, wenn ich nur ganz kleine Ziele verfolge, und ich bin ein bisschen Stolz auf mich, wenn mein Ziel nicht bei drei, sondern bei fünf langen Wehen stecke, ohne nachzudenken.

Also denke ich die ganze Zeit daran, wie viele Wehen noch vergehen müssen, bis ich wieder an das weitergehen denken darf.

Ich habe mein Gehirn fein säuberlich in mehrere unabhängige Bereiche voneinander aufgeteilt.

Hier versuche ich, meiner Frau Kraft zu geben, und da läuft meine persönliche Wehenanzahl- Zeitrechnung, die mir selbst helfen soll, die Ruhe zu bewahren. Eine Ecke meines Gehirnes ist schließlich noch Fotograf, der gewohnt cool bleiben muss und unbeeindruckt vom Geschehen rundum versucht, professionell zu bleiben und das Geschehen im Griff zu behalten.

Aber langsam, ganz langsam, merke ich, wie die Kräfte meiner Frau schwinden, und ich selbst mich mehr und mehr zusammennehmen muss. Und es öffnet sich eine weitere Seite in meinem Gehirn, die sagt zu mir: „Ich will einfach nicht mehr“, und ich erschrecke vor mir selber, wie ich mich beobachte, und wie dieser Gedanke versucht, Raum in meinem Gehirn zu gewinnen.

Gibt es Zwischenerlösungen?

Als die Hebamme sagt, sie wird jetzt den Doktor rufen, habe ich das Gefühl, es so gut wie geschafft zu haben. Und ich drücke die Hand meiner Frau und wünschte mir einen warmen Blick, ein aufmunterndes Lächeln, ein Wort, eine Geste, aber das würde zuviel von der wenigen Kraft verbrauchen, die Irena noch hat. Sie will nur noch, dass es endlich vorbei ist.

Aber es geht gnadenlos weiter. Eine neue Seite in meinem Gehirn öffnet sich, und ich denke mir, irgend etwas geht schief. Der Doktor (dieser Schweinehund, denke ich mir!) sagt es uns nur nicht. Laut sage ich es natürlich nicht. Aber irgendwann lässt mich die Hebamme schauen, und ich lasse mir sagen, dass das, was da kaum sichtbar ist, der blutige, schleimige Kopf des Babys ist, das da seinen Weg sucht, aber nicht weiterkommen will.

Und wieder sage ich es meiner Frau: sie wird es bald geschafft haben, der Kopf ist schon fast da, und nur noch ein bisschen muss sie durchhalten.

Mache ich mich eigentlich lächerlich? Aber ich vermute, andere Männer werden sich kaum anders verhalten.

Der Doktor legt zum fünften mal seine Unterarme auf Irenas Bauch und legt seinen Oberkörper darüber, um mit seinem ganzen Gewicht das Baby weiter heraus zu pressen und ich denke mir bitte, lass das Baby gesund sein. Und lass es endlich kommen.

Und dann, von einem sogartigen Geräusch begleitet, mit einem letzten großen Aufbäumen von Irena flutscht das Baby heraus, ich sehe genau im richtigen Augenblick hin, und eine halbe Sekunde später ist es wie ein Blubb, blubb, blubb, und fast wie bei einer Spielzeugpuppe entfalten sich Hände und Füße unseres Babys, und ein bisschen bewundere ich die Kühlheit, mit der der Arzt auf die Uhr schaut, die Zeit festhält und sagt, dass es ein Mädchen ist.

Und es ist gesund.

Und meine Frau ist entspannt, und ich wünsche mir, irgendwohin laufen zu können, wo ich ganz für mich allein eine Zigarette rauchen kann.

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