Papa sein dagegen sehr.
Rikki Tim-Tom
oder
587 Möglichkeiten, ein Baby falsch zu halten
Ein Fortsetzungstagebuch
Das zweite Jahr, Monat 10
Kapitel 2/23
Vorgeschichte:
Unsere Kinder waren 6 Wochen bei Irenas Eltern in Skopje, Mazedonien,
damit sich Irena auf Ihre Gesellenprüfung vorbereiten kann.
Der Eintrag beginnt an der Stelle, wo wir die Kinder wieder abholen.
Zusammen fahren alle zum Flughafen, um sich zu verabschieden.
Hier beginnt die heutige Geschichte:
Die Heimkehr:
„Baba…. Dedo… Bane… Patscheto…“
Und dann, als wir uns umarmen, fällt es auch mir schwer, die Tränen zurück zu halten. Nur schnell durch die Schleuse jetzt, denke ich bei mir, den Abschiedsschmerz möglicht kurz halten.
Noch einmal halte ich den Tim zu seiner Baba, seiner Oma, zum letzten Abküssen hin, dann sage ich, die Tränen nur mühsam zurückhaltend: „… Aide, Aide jetzt, gehen wir“, und resolut gehe ich mit Tim voraus, zu der Tür zur Passkontrolle, und ich drehe mich nicht um, aber ich spüre, wie mir meine Frau mit Kika folgt. Ich will mich nicht umdrehen, bis ich durch die Tür bin, ich will nicht mal Irena ansehen, ich habe Angst, meine Rührung nicht bei mir behalten zu können.
Doch noch einmal gibt es eine Unterbrechung. Eine Flughafenangestellte fragt nach unseren Bordkarten, sie nimmt eine davon und sagt, wir sollen warten. So stehen wir im Niemandsland, nicht mehr bei unseren Großeltern, aber auch nicht durch die Tür, die uns den Blickkontakt nimmt.
Ein bisschen Palaver, ich verstehe nichts, niemand übersetzt mir, ein fragender Blick zu meiner Frau, ein hilfloser Blick zu meinen Schwiegereltern, ich verstehe, es gibt Probleme mit einem Gepäckstück, Irena zählt auf, was wir alles haben. Dann die Erleichterung, wir haben keine Soldatentasche, die Angestellte gibt uns die Bordkarte zurück, und endgültig gehen wir durch die Tür.
Wieder stehen wir an, diesmal vor der Passkontrolle. Quälend langsam geht es voran. Rikki wird ungeduldig in ihrem Buggy, Tim wird schwer in Irenas Armen. Ich sage: “ Irena, schau mal, da kann man vielleicht Baba und Dedo noch sehen“, und ich zeige auf eine kleine Nebentüre mit Glasfenster. Sie schaut, läuft ein bisschen zu der Türe hin, und sieht wirklich unser Abschiedskomitee draußen stehen. Später erfahre ich, sie standen am Flughafen, bis sie die Lufthansamaschine in der Luft gesehen haben.
Rikki steigt aus ihrem Buggy aus, Tim wird hineingesetzt, und Irena und Rikki gehen zu der Tür. Dann, ich kann gar nicht so schnell schauen, hat sich Rikki von meiner Frau losgerissen, und sie fetzt durch die Türe zurück zu Ihrer Baba. Ich stehe nervös in der Pass-Schlange, Irena traut sich nicht, hinter ihrer Tochter herzurennen, Rikki ist außer meiner Sichtweite. Ich weiß, sie ist wieder zu ihrer Baba gerannt und verursacht einen kleinen Aufstand. Fast bin ich froh, dass ich dieses erneute Herzen und Küssen nicht anschauen muss. Schließlich muss ich meinen Platz in der Schlange verteidigen.
Es ist eine Quälerei. Ich denke, es sind nicht einmal drei Minuten vergangen, aber es ist eine Ewigkeit, bis die Reihe an uns kommt und ich Irena rufe, dass sie endlich kommt. Sie weiß nicht, was sie tun soll, sie darf ja nicht mehr hinaus. Ich weiß nicht, ob ich mir einbilde, dass ich Rikki laut weinen höre, eigentlich ist sie zu weit weg von mir. Endlich sehe ich, wie ein Flughafenangestellter meiner Frau Ihre Tochter wieder übergibt. Selbst sein Lachen wirkt etwas gequält.
Und endlich, irgendwann später, kann ich Rikki erklären, was es bedeutet, zu fliegen. Der Bus bringt uns auf die Rollbahn, und ich zeige ihr das Flugzeug, bevor wir die Treppe hinaufsteigen.
Rikki darf am Fenster sitzen und ein paar mal sage ich, dass es jetzt gleich losgeht. Als der Flieger tatsächlich beschleunigt, drückt es meine Tochter so sehr in den Sitz, dass sie gar nicht mehr das Fenster im Blick halten kann. Wir heben ab, und Rikki sieht, wie schnell die Erde, die Autos, die Häuser unter uns kleiner werden. Ich bin mir sicher, sie versteht, was fliegen bedeutet, und dass wir weit, weit weg fliegen von Baba, Dedo und Bane.
Und dann irgendwann hat uns das normale Leben wieder. Wir kommen nach Hause. Das erste, was Rikki wiedererkennt, ist ihr Kindersitz im Auto. Nach sieben Wochen, in denen sie im Auto nie angeschnallt war und auch während der Fahrt überall herumgeturnt ist, bin ich froh, dass sie sich nicht weigert, angeschnallt zu werden.
Ich bin gespannt, wie sie auf unsere Wohnung reagiert. Kaum sind wir aus dem Auto ausgestiegen, klettert Sie sofort die Treppe nach oben. Das hat sie sich früher nie getraut, und wir staunen und schauen, dass wir hinterher kommen.
Wir schließen die Wohnungstüre auf, und Rikki läuft in die Mitte des Flures. Man kann sehen, wie sie erst unschlüssig ist, wie ihr zwar alles irgendwie bekannt vorkommt, sie aber noch nicht ganz sicher ist. Dann rennt sie zielstrebig zur Tür zum Schlafzimmer, in dem wir immer alle zu viert schlafen. Sie öffnet die Tür, und es ist fast wie eine Überraschung zu Weihnachten. Sie schaut, sie dreht sich zu uns um und strahlt über das ganze Gesicht. Sie ist endgültig wieder daheim angekommen.
Verblüffend ist, wie schnell und normal die kleinen Änderungen sind, die sich nach sieben Wochen des Wachsens ergeben. Timmi sitzt nicht mehr im Maxi Cosy, sondern im Kindersitz, und Rikki bekommt ihren eigenen Stuhl.
Ich bin froh, gute Laune um mich herum zu sehen. Vielleicht habe ich mir doch zu viel Sorgen gemacht, wie sich unsere Kinder wieder eingewöhnen. Schließlich haben sie die letzten sieben Wochen in einer Umgebung verbracht, wo sie permanent von vielen Leuten umgeben waren, die sie liebten und sich um sie kümmerten. Sie haben ein richtiges Kinderparadies genießen dürfen, mit Ball spielen, Kaninchen füttern, Erdbeeren naschen, und so etwas wie Langeweile ist bei ihnen nie aufgekommen.
Jetzt geht es nicht nur für die Kinder darum, sich einzugewöhnen. Wir Eltern haben ja auch Pause gehabt mit Flaschen zubereiten, Windeln wechseln und zwei kleinen Geschöpfen, die immer Aufmerksamkeit wollen.
Eine der ersten Überraschungen ist, wie unsere Tochter Türen öffnet. Als sie groß genug war, die Türklinke zu erreichen, haben wir sie senkrecht gestellt, damit Rikki nicht nach draußen laufen kann. Das ist natürlich eine faszinierende Sache für Sie. Noch keine Stunde zu Hause probiert sie es gleich aus und schwups, die Tür ist offen. Sollen wir denn die Türe jetzt abschließen, um unsere Tochter zu schützen? Ich probiere es aus, und muss feststellen- unsere Rikki war schlauer. Sie hat irgendwelche Plastikteile ins Schlüsselloch geschoben, damit der Schlüssel nicht mehr von innen hineingesteckt werden kann. Dabei ist sie jetzt noch nicht mal zwei Jahre alt.
So geht es das erste mal ins heimische Bett, und ich wundere mich, wie schnell schon wieder alles ganz normal für unsere beiden Kleinen ist. Nur Tim schreit, er hat die Gewohnheit, im Arm seiner Baba einzuschlafen. Es dauert ganz schön lange, bis er sich beruhigt und Irena ihn in den Schlaf wiegen kann.
Und nach dem einschlafen höre ich plötzlich Rikki murmeln: „Baba…. Dedo… Bane… Patscheto…,“ und ich denke selbst im Halbschlaf, dass diese Sache noch nicht ganz ausgestanden ist. Übrigens: Das makedonische Wort für Katze lautet Matsche, aber warum Rikki daraus Patscheto gemacht hat, weiß keiner.
Und wirklich- in den nächsten Tagen sollte ich noch oft schmerzlich daran erinnert werden, wie schwer es ist, unseren Kindern hier in Deutschland im ganz normalen Arbeitsalltag die gleiche Liebe entgegenzubringen wie unsere Verwandten in Skopje. Am nächsten Tag fällt die Rikki hin und schreit fürchterlich. Ich renne zu ihr, nehme sie auf den Schoss und drücke sie ganz eng an mich, um sie zu trösten. Ich weiß, das muss ich vielleicht eine Minute machen, dann geht es normalerweise vorbei. Aber heute schreit sie, ich wiege sie, versuche sie zu trösten, frage, wo es weh tut, blase ein bisschen auf den Kopf, wo ich vermute, dass sie sich gestoßen hat. Aber sie lässt sich nicht beruhigen und als sie fähig ist, sich wieder zu artikulieren, schreit sie, immer noch von Weinkrämpfen unterbrochen: „Baba!!! Dedo!!!“ immer und immer wieder.
Wäre sie erwachsen, und wüsste sie, wie weh mir das tut, sie würde sich sicher zusammenreißen, um mich etwas zu schonen. Aber dafür ist ein Kind ein Kind. Wenn es sich in großer Not befindet, gibt es kein Taktieren, kein abwägen, dann bricht alles aus ihm heraus. Und so sitzen wir beide da, und beide müssen wir weinen, und es hilft gar nichts, dass ich mir denke, wir müssen da halt jetzt durch.
Noch schlimmer ist eine Situation am Abend. Irena telefoniert mit Baba und Dedo und ich rufe Rikki: „Rikki, komm, telefonieren!“, aber sie will nicht zum Telefon kommen. Ich denke, sie versteht nicht, dass sie Brane hören kann und will sie holen. „Rikki, komm, mit Bane sprechen. Bane am Telefon!“ Aber sie lässt sich nicht hochheben, sondern rennt davon, flüchtet in ihr kleines Stoffhaus in ihrem Zimmer und versteckt sich.
Also telefonieren wir allein und fragen Brane, wie es auf der Botschaft war. Er möchte uns nämlich gerne besuchen und will ein Visum beantragen. Das letzte mal hat es nicht geklappt. Die Botschaft kann alleine darüber entscheiden, wer ein Besuchsvisum bekommt und wer nicht. Wenn die dortigen Beamten Zweifel an der Rückkehrwilligkeit des Antragstellers haben, können sie ohne eine Begründung ein Visum verweigern.
Am Rande bemerkt: Als es das letzte mal nicht klappte, hat mir Brane seine Stempel gezeigt. Bei jedem Vorsprechen in der Botschaft muss ein Besucher 20 Deutsche Mark bezahlen. Brane ist für einen Versuch sechs mal hingegangen. Das bedeutet, er hat 120 DM insgesamt dafür bezahlt, dass er letztendlich doch kein Visum bekommen hat. Damit dieser Betrag richtig eingeordnet werden kann: sein Vater hat ein Monatseinkommen von knapp 200 Mark…
Ich selbst habe für über 200 DM mit der Botschaft telefoniert, um zu erklären, wie sicher es ist, dass er pünktlich wieder zurückkommt. Schließlich habe ich den Beamten überzeugt, er glaubt mir und sagt, ich solle Brane noch mal hinschicken, er würde die Rückkehrwilligkeit noch einmal „wohlwollend“ prüfen. Als ich dann Brane 2 Tage später wieder hingeschickt habe, dachte ich, das Visum wäre sicher. Aber am Telefon erzählte er, er hätte keines bekommen. Der Beamte, mit dem ich gesprochen hätte, wäre nach Deutschland zurückversetzt worden, und von seinen anderen Kollegen hätte niemand etwas von ihm gewusst.
Manchmal denke ich, hätte ich eine Frau geheiratet, die 200 Kilometer weiter weg geboren wäre, wie einfach wäre es, sich gegenseitig zu besuchen und eine Art „normales“ Familienleben zu führen.
So fragen wir also wieder einmal bei Brane nach, wie es auf der Botschaft war. Er sagt, um sieben Uhr früh sei er da gewesen und hätte sich angestellt. Nachmittags um drei Uhr sei die Botschaft geschlossen worden. Die Schlange war zu lang, er hat unverrichteter Dinge wieder nach hause gehen müssen.
In dem Moment, wo wir das Telefon auflegen, fängt Rikki in ihrem Häuschen wieder zu weinen an. Sie schreit und wiederholt immer wieder die Namen Ihrer Liebsten in Makedonien: Baba, Dedo und Bane. Lange Zeit kann ich sie nicht beruhigen, und ich weiß, nie mehr werde ich sie rufen, wenn wir mit Skopje telefonieren.